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Hugo Häring

 

 

Zum 100. Geburtstag

 

Sabine Kremer  

veröffentlich in Zeitschrift Architektur - Innenarchitektur - Technischer Ausbau (AIT) 3/1982

 

 

 

  • Hugo Häring (1882-1958) lieferte mit seinen Bauten und seiner Lehre vom organhaften Bauen und Gestalten einen wichtigen Beitrag zur Architektur des 20. Jahrhunderts. Der 100jährige Geburtstag Härings soll Anlass sein, sich erneut mit seinem Werk auseinanderzusetzen. Die Verfasserin dieses Beitrags legt in diesem Jahr (1982) eine Dissertation (1) über Hugo Häring vor.

  • Hugo Häring wurde am 22.05.1882 in Biberach an der Riß als Sohn eines Schreinermeisters geboren. Nach seinem Abitur 1899 studierte er in Stuttgart, unter anderem bei Theodor Fischer, sowie in Dresden Architektur. Von 1903-14 war er in Ulm, anschließend in Hamburg als Architekt tätig. 1921 siedelte Häring nach Berlin über. Mies van der Rohe bot ihm in seinem Büro ein Arbeitszimmer an. Da ihre Architekturvorstellungen ganz anderen Gestaltreichen entsprachen, arbeiteten sie jedoch kaum gemeinsam an den selben Projekten, sondern diskutierten in erster Linie über aktuelle Probleme der Architektur. 

  • 1924/25 konnte Häring sein bedeutendstes Projekt, das Gut Garkau am Pönitzer See bei Lübeck, verwirklichen. Es ist heute sein bekanntester Bau, an dem er seine Vorstellungen des "neuen bauens" verwirklichen konnte. In die Mitte der zwanziger Jahre fiel auch der Zusammenschluß der Architekten des "neuen bauens", zunächst zum "Zehnerring" und anschließend erweitert zum "Ring". Häring wurde zum Sekretär des "Rings" gewählt. Der Zehnerring war 1923, als Reaktion auf die intransingente Baupolitik von Ludwig Hoffmann gegründet worden, der als Späthistorist den Wilhelminischen Neobarock vertrat und bis 1925 an der Spitze des Berliner öffentlichen Bauwesens stand. Nach ihm wurde Martin Wagner Stadtbaurat, dem es zu verdanken ist, daß zwei bedeutende Siedlungen des "neuen bauens" in  Berlin entstehen konnten, die Großsiedlung Fischtalgrund in Zehlendorf (1926/27) und die Siedlung Siemensstadt an der Jungfernheide (1928/31), an denen Hugo Häring beteiligt war. Das wichtigste Aufgabengebiet des Architekten der damaligen Zeit war die Arbeiterwohnung. Auch Härings Interesse galt dem Wohnungsbau, dem Wohnhaus, besonders aber der Kleinwohnung im Flachbau. 1932 wurde er von dem Osterreicher Josef Frank als einziger deutscher Architekt zur Teilnahme an der internationalen Werkbundsiedlung in Wien aufgefordert, für die er ebenerdige Gartenhofhäuser baute.

  • Die Architekten des „neuen bauens“, des „Rings“, wurden nach der Machtergreifung Hitlers als "entartet" bezeichnet und ihre Vorstellungen vom Bauen galten als "undeutsch". In den Jahren 1933/34 hatte Häring keinerlei Aufträge mehr, auswandern wollte er aber auch nicht, da er, obwohl er um seine Existenz bangen mußte, nur in Deutschland leben wollte.

  • In der Zeit von 1936-38 konnte Häring jedoch unter Berücksichtigung bestimmter Auflagen drei Einfamilienhäuser verwirklichen: das Haus Ziegler in Berlin-Steglitz, das Haus Krutina in Badenweiler und das Haus Prittwitz in Tutzing am Starnberger See.

  • Häring übernahm 1935 die Leitung der "Reimannschule" in Berlin. Er gab der Schule den Namen Private Schule für Gestaltung "Kunst und Werk". 1943 wurde die Schule bei einem Bombenangriff zerstört, und so kehrte Häring in seine Heimatstadt Biberach zurück, wo er die Schule fortführen wollte. Härings Jahre in Biberach waren seine glücklichsten, wie er in einem Brief an Heinrich Lauterbach 1946 schrieb. Er lebte fast wie ein Einsiedler in seiner Dachkammer.

  • In Biberach konnte Häring nach dem Krieg ein letztes Mal seine baulichen Vorstellungen verwirklichen. Für den befreundeten Inhaber einer Seidenweberei, Guido Schmitz, und dessen beiden Söhne, entwarf er drei Einfamilienhäuser, von denen zwei gebaut wurden, die heute unter Denkmalschutz stehen. 

  • Häring wollte immer schon sein Buch schreiben, dem er den Titel "Erziehung der menschheit -entwurf zu einem genetischen weltbild" geben wollte. Später wandelte er ihn in "Die erde eine pflanzenschule für geister" um, in Anlehnung an Goethes bekanntes Wort, und gab ihm schließlich den Titel "Die ausbildung des geistes zur arbeit an der gestalt". Häring konnte sein Buch nicht zu Ende schreiben. Er starb am 17. Mai 1958 nach langem Leiden in Göppingen. 

Härings Geschichtsbild

 

  • Als Nicht-Historiker, Nicht-Geschichts-philosoph und Nicht- Kunsthistoriker hat Häring Gedanken zum Ablauf der Geschichte geäußert, die zum Teil schon lange, zum Teil erst kurz vor seiner Arbeit formuliert wurden. Über die Quellen macht er keine Angaben. Gelegentlich nennt er Heinrich Wölfflin (1864-1945), Gustaf Britsch (1879-1923) und Karl Scheffler (1869-1951), der Verfasser von „Der Geist der Gotik" (1917). Hugo Häring versteht den geschichtlichen Prozeß nicht als eine Tat des Menschen, sondern als "gestaltlehre", als "gestaltwerdung" des schöpferischen Menschen. "Die gestalt der dinge ist das geheimnis das uns lockt. ..Das geheimnis der gestalt ist nicht, wie sie entsteht, sondern daß sie ist. Sie ist ein geschöpf der gestaltmacht des LOGOS." (2) Gestalt ist das Schlüsselwort in Härings Lehre vom organhaften Bauen, denn in ihr drückt sich das Wirken der schöpferischen Kräfte aus. Den schöpferischen Kräften sind Themen gestellt, die nicht willkürlich geschaffen werden, sondern zeitlich begrenzt sind und in einem inneren Zusammenhang stehen. Zu jedem Thema gehört der jeweilige Werkraum. Es folgt ein Werkraum dem anderen, wobei der nachfolgende auf den Erkenntnissen des vorangegangenen aufbaut. Häring fordert die Idee der Werkräume und lehnt die Nation als Ziel der Völker ab, da die Werkraumidee eine Entpolitisierung des Völkerlebens und des Machtstrebens, laut Häring, enthält. Die Aufgabe eines Werkraumes ist beendet, eine Kultur erlischt, wenn sein Pensum erfüllt ist. Die Abfolge der einzelnen Aufgaben gehorcht einem Lehrplan, der die schöpferischen Kräfte des Menschen weckt und ausbildet. Diese Folge von Plänen nennt Häring das "erziehungswerk". "Das erziehungswerk ist das werk der einweihung der menschheit in das mysterium der schöpfung. " (3) Das höchste Ziel, das der Lehrplan des Erziehungswerks anstrebt, ist die Gestalt. Da die Gestalt das Thema der Schöpfung ist, ist sie auch das Thema des "erziehungswerks". Die Arbeit an der Gestalt ist nicht ein zusätzlicher Teil des Lebens, sondern der "hohe sinn des lebens, sein eigentliches ziel", wie Häring schreibt. Dieser festgelegte Plan des Erziehungswerks ist so zu verstehen, wie die festgelegten Bahnen, in der die Erde um die Sonne, der Mond um die Erde und überhaupt alle Planeten am Firmament kreisen, und das Geschick der Menschen wird davon abhängen, wie sie sich auf diesen Plan einstellen. 

  • Die Aufnahmefähigkeit des Menschen ist gering, und deshalb kann der gewaltig zu bearbeitende Stoff nicht in einem einzigen Lehrgang bezwungen werden. Die einzelnen Lehrgänge zusammen ergeben den großen Plan, nach dem das Erziehungswerk angelegt ist, das den Charakter einer Gestaltlehre hat, die den Menschen einführt in die Prinzipien der Gestaltreiche der Natur. Überträgt man Härings Vorstellungen konkret auf seinen Geschichtsentwurf, so sieht er sich am Anfang eines neuen Zeitalters stehen, am Anfang einer Wende sowohl im Künstlerischen als auch in den Wissenschaften. Alle seine Arbeiten sind von der Vorstellung dieser Wende durchdrungen, von der Idee, daß eine neue Epoche beginnt. Es ist die Wende von der Geometrie zur Organik, vom "kubus zum LOGOS", vom "dunklen zum kosmischen zeitalter", vom "toten zum lebendigen". 

 

 

 

Härings Begriffe vom "neuen bauen" und der "architektur"

 

 

  • Häring versucht bei seiner Gegenüberstellung vom "neuen bauen" und von der "architektur" die Merkmale der beiden Richtungen oder "Gestaltreiche", wie er es ausdrückt, zu erläutern. Er betrachtet die Geschichtsentwicklung von der Seite ihrer Strukturen her, denn "das struktive prinzip bestimmt eine ordnung im raume und in der zeit". (4) Es ist in zwei Gruppen einzuteilen, in eine Gruppe organhafter und eine Gruppe geometrischer Strukturen. Die organhaften Strukturen erstreben "lebenserfüllung, ordnung im raume und in der zeit. Alle Gestalt in der natur ist organ der lebenserfüllung". (5) Die Aufgabe und die Funktion, die die Dinge zu erfüllen haben, bestimmt die Art dieser Dinge im Raum. Nicht der Ausdruck, sondern eine "leistungserfüllung" ist das Ziel bei Geräten, Werkzeugen usw., denn das struktive Prinzip ist organhaft. 

  • Der geometrische Strukturbegriff erreicht auch eine Ordnung im Raum, jedoch durch ..formgebung", durch "ordnungssetzung nach geometrischen prinzipien". Nicht Leistungs- erfüllung wird angestrebt, sondern eine Zwangsform aus geometrischen Strukturformen. 

  • "Organik verlangt individuieren, verlangt, daß Jedem ding die ihm eigene gestalt gegeben werde, daß es keiner zwangsform mehr unterworfen werde. ..Individuieren heißt, nach dem gesetz des eigenen wesens die gestalt bauen, nicht nach dem gesetz gegebener formen, also immer von innen her, nicht von außen gestalten" (6) Wenn man das neue Bauen nach dem Gestaltwerk ausrichtet, so beginnt die Arbeit zuerst an der Konzeption der Gestalt eines jeden Bauwerks, die abhängig von der Nutzung und den Bewohnern ist. Es ist nicht mehr eine Ordnung, die von der Seele und den Gefühlen bestimmt wird, sondern eine geistige Ordnung, deren Strukturidee das Bauwerk zu gehorchen hat Die Geometrie ist in dieser neuen Ordnung nicht ganz ausgeschaltet, sie steht nur nicht mehr im Mittelpunkt, ist nicht mehr die gestaltgebende Macht, denn im menschlichen Gestaltschaffen existieren beide Gestaltbereiche nebeneinander. Zusammenfassend erklärt Häring den Begriff der Organik folgendermaßen: "Organhaftes bauen hat natürlich gar nichts mit der nachahmung von organwerken der geschöpflichen welt zu tun. Die entscheidende forderung, die man vom standpunkt der organik aus stellt, ist die, daß die gestalt der dinge nicht mehr von außen her bestimmt wird, daß sie in der wesenheit des objekts gesucht werden muß. Deshalb steht nur die frage nach der wesenheit eines objekts im vordergrund." (7) Häring möchte genauso wenig organische wie geometrische Architektur, denn beide sind formalen Systemen verhaftet. Das organhafte Bauen muß auf den Menschen bezogen sein, für ihn wird gebaut.

  • Über den Begriff "Mensch sein heißt: wohnen" bei Martin Heidegger (8), kann der Ursprung des Begriffs "neues bauen" von Häring erläutert werden Für Heidegger ist das "Wohnen" der Inbegriff für alles menschliche Sein auf der Erde. Das jeweilige Wohnen ist der Ausdruck für das Wesen des einzelnen Menschen. Häring deutet den Begriff des "neuen bauens" auch vom Wohnen her. "Neues bauen" heißt bauen von innen nach außen, vom Leben und Wohnen des Menschen ausgehend, entsteht zunächst der Grundriß, später das Gebäude, die Fassade. Der Mensch ist Ausgangspunkt allen Planens bei Häring, da er für den Menschen ein Gebäude erreichen will, und nicht um der Repräsentation willen. Häring sieht somit den Begriff des "neuen bauens" auf das Wohnen bezogen ähnlich wie Heidegger, als den Ausdruck des menschlichen Seins. Wohnen bedeutet auch für Häring "Mensch sein".

  • Häring vertritt die Ansicht, daß im 20. Jahrhundert das organhafte Bauen die geometrische Architektur ablöst. Beide Formen des Bauens stehen gleichberechtigt nebeneinander. Verlangt das Wesen eines Gebäudes ein organhaftes Gepräge, so muß dies in der Bauform erkennbar werden, ist jedoch das Wesen ein geometrisches, so muß das ebenfalls nach außen hin ablesbar sein. Hierin liegt auch zugleich die Problematik des Häringschen Denkens, denn wer kann objektiv erkennen und bestimmen, was das jeweilige Wesen, d.h. das Wesentliche einer bestimmten Bauaufgabe zu einer bestimmten Zeit ausmacht?

 

Härings Begriffe der Wesenheit

 

 

  • Häring versteht unter Wesenheit das eigentliche Individuelle, das bei jedem Objekt, jedem Element unterschiedlich ist, wenn es Gestalt annimmt. Man soll demnach nicht die eigene Individualität gestalten, sondern die Individualität der Dinge. Seine Theorie von der "leistungsform" führt zum "organwerk", welches überall das gleiche ist. Es bildet die Grundlage für das "gestaltwerk", das immer verschieden ist, und in dem die Wesenheit des zu gestaltenden objekts erscheint. Die beiden Begriffe "gestaltwerk" und "organwerk" erläutert Häring anhand des Menschen. "Das organwerk des menschen ist immer das selbe, es ist das objekt des anatomen. Das gestaltwerk hingegen ist überaus verschieden und nicht zweimal das selbe ... Ohne die aktionen des gestaltwerks im organwerk, ist das organwerk ohne wesenheit. Das gestaltwerk ist der träger des lebens." (9)

  • Häring führt an, daß die Form, also die Gestalt des Wesens, in den jeweiligen Werkräumen schon vorgegeben sei, und daß der Mensch durch seinen Geist in die Lage versetzt wird, die Gestalt zu erkennen, und das Wesen der Aufgabe darzustellen. Bei einfachen Gebrauchsgegenständen ist das Wesentliche der Dinge leicht aus ihrer Form abzuleiten. Bei komplexeren Gegenständen wird das Erkennen der Funktionen, die ineinandergreifen oder sich gegenseitig ausschließen, immer schwieriger. Hier liegt das Erkennen des Wesentlichen beim jeweiligen Menschen und seinen geistigen Fähigkeiten selber, die jedoch nicht aus seiner Zeit, oder dem Werkraum, wie Häring es ausdrückt, wegzudenken sind.

  • Der Baseler Biologe Portmann spricht in seinen 1957 erschienenen sechs Vorträgen unter anderem auch über ein "Innerliches, das sich in der Erscheinung äußert". Dieses Innerliche ist zum Beispiel bei einem architektonischen Werk laufenden Veränderungen unterworfen und muß zu jeder Zeit neu erkannt werden. Darin liegt aber auch die Problematik, die bei der Gestaltung des Wesens einer Bauaufgabe auftritt. Die Individualität einer Bauaufgabe ist aber, wie Häring sagt, eng mit ihrem Wesen verknüpft. Finden wir diese Individualität, so kommen wir dem Wesenhaften näher und lösen somit die Aufgabe, die uns gestellt wird. Dem Architekten will Häring keine allgemeingültigen Formen für die Gestaltung liefern, denn "dem architekten fällt noch immer die aufgabe zu, in den organwerken die geheimen kräfte zu erkennen und zu lenken, die ihnen das gesicht von wesenheit geben." (10)  

Härings Stellung zum Wohnungsbau

 

 

  • Die Übereinstimmung von Theorie und Praxis läßt sich am besten an Härings Entwürfen und Bauten im Wohnungsbau erläutern. 

  • Betrachtet man seine Werke von 1920 bis 1950, so wird man feststellen, daß sie vorwiegend aus orthogonalen Grundriss-systemen bestehen, die an einigen Stellen unterbrochen sind. Häring ging es nicht um die Form an sich, sondern ihm ging es um die Leistungsform, um die Erfüllung einer Aufgabe. Als Hauptaufgabe sah er das Schaffen von Wohnungen, in denen sich die Menschen wohlfühlen, in denen sie leben können, so wie es ihren Bedürfnissen entspricht.

  • Er schrieb 1932: "Es erscheint vielen noch unvorstellbar auch ein haus ganz als ein ,organhaftes gebilde' zu entwickeln, es aus der form der leistungserfüllung' heraus zu züchten, das haus als die ,weitere haut des menschen' und als organ zu sehen. ..Denn die form der leistungserfüllung führt dazu, daß jedes ding seine eigene wesenhafte gestalt erhalte und behalte." (11) Erst wenn der Künstler seine Individualität aufgegeben hat, wird er im Sinne der Leistungserfüllung arbeiten und auf das Wesenhafte eines jeden Gegenstandes zurückkommen.

  • Härings Formensprache ergibt sich nicht aus organischen Formvorstellungen und Nachahmungen aus der Natur, sondern sie sind das Ergebnis der Erfüllung der jeweiligen Leistungsform. Häring kommt es auf die Wesenheit des Objektes an. Bezieht man das auf das Wohnhaus, so ist die Wesenheit dieses Gebäudes das Wohnen. Wie wohnt der Mensch? Wie lebt er, wie bewegt er sich ungezwungen? Auf diese Fragen wollte Häring eine Antwort geben. Er hat sich nicht zum Ziel gesetzt, Baukörper plastisch zu gestalten. Sein Entwurf setzt an der "arbeit am grundriss" an. Ihm geht es darum, die Lebensvorgänge der Bewohner räumlich zu fassen, und um die Schaffung von optimalen Voraussetzungen zum Wohnen.

  • Besonders in den frühen Jahren legte Häring großen Wert auf die Wegführung. Häring will aber kein bewegtes Gebäude entwerfen, dem von außen eine Art Bewegung anzusehen ist, denn das wäre "formgebung, zwangsform" und nicht "formfindung". Er möchte die menschlichen Bewegungsabläufe in dem Gebäude umhüllen, sie baulich umfassen. Er schafft keine anonyme Raumgestalt, sondern für jeden Bewegungsablauf den passenden, individuell gestalteten Raum. Er liefert kein Stück Stoff, daß man um jede Figur hüllen kann, sondern einen Maßanzug.

  • Diese Vorstellung Härings ist aus fast allen Wohnungsgrundrissen ersichtlich, da er immer die Möblierung einzeichnet, um die herum die Wände gelegt werden. Nun kann man die Lebensvorgänge beim Wohnhaus in verschiedene Bereiche unterteilen, in essen, schlafen, arbeiten, lesen, usw. Für jeden dieser Vorgänge schafft Häring einzelne Bereiche, die jedoch nicht isoliert voneinander, sondern räumlich verbunden sind. So wird der Wohnraum in Härings Grundrissen zum Hauptraum, der zu gliedern und zu gestalten ist, da sich in ihm die Familie am meisten aufhält. Wohnen besteht aus unterschiedlichen Tätigkeiten, wie lesen, musizieren, gemütlich zusammensitzen, sich unterhalten, usw. Deshalb gliedert Häring seine Wohnräume in unterschiedliche räumliche Bereiche, die auch in der Höhe der Decke variieren. Er schafft dunklere Kaminecken, hellere Musikbereiche oder gemütliche Sitzecken mit Ausblick in die Landschaft. 

  • Er geht meist von einer orthogonalen Ordnung aus, die er jedoch dann durchbricht, wenn die Möblierung, die Belichtung oder die Besonnung es fordern. Die Innenwände sind fast ausschließlich geradlinig und orthogonal, nur die Außenwände öffnen sich zur Sonneneinstrahlung. Belichtung und Belüftung spielen eine wichtige Rolle bei Härings Grundrissen, die hell und sonnig wirken. So haben die Schlafräume immer Süd-OstBesonnung, die Wohnräume liegen im Süden oder Westen und die Eingänge im Norden, oder Osten. Die Grundrisse sind nach Norden hin geschlossen, während sie sich nach Süden und Westen zur Sonneneinstrahlung hin öffnen. Häring wollte mit seinen Entwürfen keine Rezepte für Wohnungsgrundrisse liefern, er wollte jedes Gebäude seiner Wesenheit entsprechend gestalten und erreichen, daß das Individuum durch die Gliederung eigenen Raum gewinnt und nicht mit der Masse in eine Massenform gepresst wird. Organhaftes Bauen beschreibt ja nicht die Formensprache der Bauwerke, sondern den Vorgang des Entwerfens. So bestimmt die jeweilige Aufgabe die Form und Struktur des Gebäudes. 1951 schrieb Häring in seiner Studie "Geometrie und organik" : "Die entscheidende forderung, die man vom standpunkt der organik stellt, ist die, das die gestalt der dinge. ..in der wesenheit des obiekts gesucht werden muß“. Diese Maxime zieht sich wie ein roter Faden durch Härings Werk. 

Literatur

 

  • (1) Kremer, Sabine: Hugo Häring (1882-1958) Bauten, Entwürfe, Schriften, Dissertation, TU München, 1982 

  • (2) Häring, H.: Hugo Häring Fragmente, Schriftenreihe der Akademie der Künste, Band 1, Hrsg.: M. Aschenbrenner, Berlin, 1468, S. 5 

  • (3) ebd.: S. 71, von Häring gesperrt geschrieben 

  • (4,5,6) Häring, H.: Kunst- und strukturprobleme des bauens, 1931. In: Zentralblatt der Bauverwaltung, Heft 29, 15.Juli 1931, S.429-432 

  • (7) Häring, H.: Vom neuen bauen, 1952. In: Sonderdruck der Techn. Univ. Berlin, Juli 1952 

  • (8) Heidegger, M.: Bauen, Wohnen, Denken. In: Darmstädter Gespräch, Hrsg. Otto Bartning, Darmstadt, 1951 ,S. 72-88 

  • (9, 10) Häring, H.: Vom neuen Bauen, a. a. O. 

  • (11) Häring, H.: Form der Leistungserfüllung. In: Innen-Dekoration, Okt. 1932, S.361 

  • (12) Häring, H.: Geometrie und organik, 1951. In: Baukunst und Werkform, Sept.1951

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